"ÜBER DEN WERT DES HISTORISCHEN IM STÄDTEBAU"
Vertiefungsarbeit an der UNIVERSITÄT STUTTGART 1969/70
Verfasser : cand.arch. Erhard Gentzsch
Beteiligte Lehrstühle: Prof. Gutbier, Prof. Hernandez, Prof. Joedicke (Dr. Maser/ Prof. Bense)

ZUSAMMENFASSUNG  einer etwa 70-seitigen Arbeit, die an eine städtebauliche Untersuchung der Stadt LUDWIGSBURG anschließt. 

Aus den in Seminaren erarbeiteten statistischen Analysen ergibt sich die Frage nach den Ursachen und Motiven städtebaulicher Planungen.
Es scheinen viel grundlegendere Einflüsse eine Rolle zu spielen als die in den fachlichen und politischen Diskussion angesprochenen. Deshalb wird die Problematik 'radikal' angegangen.

Parallel zu den theoretischen Nachforschungen (allein die Quellensammlung umfaßt 74 Titel) wurde anläßlich des Ausbaus einer Bundesstraße mitten durch die historische Altstadt eine TONBANDUMFRAGE durchgeführt, die in einem STUDIENFILM verarbeitet wurde. Der Film bestätigt ziemlich drastisch die hier entwickelten Zusammenhänge.

1. GRUNDLAGEN  

2. GESELLSCHAFT U. GESCHICHTE

3. STÄDTEBAU

1.1 PHILOSOPHIE U. WISSENSCHAFT
1.11 Weltverständnis u. -erkenntnis
1.12 Grundfragen der Wissenschaft
1.13 Klassisches Wissenschaftsbild
1.14 Ideales Sein und Werden
1.15 Anpassung des Apparats
1.16 Transklass. Wissenschaftsbild
1.17 Ideales 'Werden'

1.2 WERTTHEORET. GRUNDLAGEN
1.21 Bewertende Wissenschaften
1.22 Wert und Bewertung
1.23 Wertabsolutismus
1.24 Wertempirismus
1.25 Wertungsbegriffe
1.26 Rangordnung von Werten
1.27 Dynamische Interpretation
1.28 Präzisierung

2.1 VERGEGENWÄRTIGUNG
2.11 Ausrichtung des Tuns
2.12 Offenheit der Gegenwart
2.13 Vergangenes i.d. Gegenwart 
2.14 Tendenz zur Auswahl
2.15 Mittelaspekt

2.2 KONSUMWELT
2.21 Engagierte Präsentation
2.22 Werbewelt
2.23 Flächenmontage
2.24 Visionäre Einheit
2.25 Kaleidoskop und Fragment
2.26 Fragment und Totalität
2.27 Verführung und 'Befreiung'
2.28 Aktionismus und Lücke
2.29 Kultur und Werbung
2.2X Menschlichkeit

2.3 PERSPEKTIVE
2.31 Funktion der Geschichte

3.1 VERSTÄNDNIS
3.11 Geschichte und Stadt
3.12 Abhängigkeiten
3.13 Kontinuum

3.2 WANDLUNG
3.21   Idealbezug
3.211 Organische Erneuerung
3.212 Hierarchie der Einbindung
3.213 Dialektischer Wandel
3.22   Realbezug
3.221 Engagiertes Bewusstsein
3.222 Funktionsverständnis
3.223 Affektive Identifikation
3.224 Sozialkonnex
3.225 Objektbeziehung u. Werbung

3.3 ÜBERLAGERUNG
3.31  Kompromißbasis
3.32  Interessenkonflikt
3.33  Verschleierung u. Aufklärung
3.34  Vereinfachungsdenken

 

1.  GRUNDLAGEN

1.1  PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT


1.11 Weltverständnis und -erkenntnis
Aus einer kulturgewachsenen 'Weltanschauung' kann sich das Wissen von der Welt in einem geordneten 'Weltbild' niederschlagen. Dabei sind wir aber selbst Teil der zu beschreibenden Welt. Die Überzeugung, zu einer kritischen Distanz fähig zu sein, ist der Ansatz zum abendländischen - d.h. prozessualen - Fortschrittsgedanken. 
Die allgemeinen Erkenntnismöglichkeiten zu erforschen ist Sache der PHILOSOPHIE, die eigentlich eine 'Vergewisserung VOR der Wissenschaft' ist. Sie ist Voraussetzung, um mögliche Sinnzusammenhänge ordnen zu können.  
1.12 Grundfragen zur Wissenschaft
Die Philosophie hat die Voraussetzungen einer Wissenschaft zu erörtern. Dazu sind drei Grundfragen zu klären:
Was ist?                  ->ONTOLOGIE (Seinslehre) gibt d.Sache möglicher Wissenschaft an.
Wie ist es erkennbar?       ->ERKENNTNISTHEORIE ordnet  wahre  Sätze zu.
Wie ist es darstellbar?      ->WISSENSCHAFTSTHEORIE systematisiert Erkenntnisse.

1.13 Klassisches Wissenschaftsbild

Sein:

REAL

FORMAL

IDEAL

Wahrheit:

WIRKLICHKEIT
physisch, wirkliche Objekte

WIDERSPRUCHSFREIHEIT bewußtseinsmäßig, Begriffe, Sätze

ÜBERZEUGUNG metaphysisch,
Wesenheiten

Nachweis:

EXPERIMENT Verifikation, Induktion, Meßverfahren

BEWEIS
Ableitung, Deduktion,
Axiomensystem  

ZUSTIMMUNG
Intuition, Spekulation,
Konvention  

Wissenschaft:

REALWISSENSCHAFT
Natw., Technik

FORMALWISSENSCHAFT
Geom.,Arithm., Algebra

INTERPRETATIONSW.
Geisteswissenschaften


ALLGEMEIGÜLTIGKEIT gibt es nur bei objektiver Nachvollziehbarkeit, also im realen und formalen Bereich. Sätze über ideales Sein können höchstens 'allgemeine Zustimmung' finden.

1.14 Ideales Sein und Werden
Aussagen über IDEALES SEIN sind insbesondere dadurch problematisch, daß sie in ihrer Bedeutung nur intuitiv erfaßbar sind, sie werden zwar sprach-logisch behandelt, können aber im eigentlichen Bezug nicht einmal gedacht werden. Betrachtet man, ausgehend vom realen Sein, das Bewußsein als erste Transzendentalstufe, so kann das Ideale Sein als zweite Transzendentalstufe bezeichnet werden und ist damit gerade durch seine 'NICHTIDENTIFIZIERBARKEIT' charakterisiert.

1.15  Anpassung des Apparats
Die Beherrschung einer 'funktionalen' Welt verlangt dynamische Wissenschaften.

1.16  Transklassisches Wissenschaftsbild
An die Stelle der o.a. statischen Seinslehre tritt eine 'prozessuale Ontologie':

Prozess:

REAL

FORMAL

IDEAL

EREIGNIS
energetische Signale

ZEICHEN
tote, speicherbare Signale

WERTUNG
wertsetzende Funktionen

Zuordnung:

SEMANTIK
Objekt - Mittel

SYNTAKTIK
Mittel - Zeichen

PRAGMATIK
Interpretant - Mittel u. Objekt

Theorie:

REGELUNGSTHEORIE
Steuerung

INFORMATIONSTHEORIE
Kodierung

INTERPRETATIONSW.
Geisteswissenschaften

Wissenschaft:

KYBERNETISCHE REALWISSENSCHAFT
kyb. Physik, kyb.Techn.

KYBERNETISCHE FORMALWISSENSCHAFT
Statistik,Wahrscheinltheorie

KYBERNETISCHE INTERPRETATIONSWISS.
kybern.Geisteswissenschaft

Die beiden philosophischen Konzeptionen (klassisch bzw. transklassisch) sind keineswegs neu (>Heraklith), sie widmen sich unterschiedlichen Aspekten des Seins, können daher auch problemlos nebeneinander bestehen.  
1.17  Ideales Werden
Steuerbarkeit von Prozessen, Beherrschung von Machtstrukturen, kybernetische Geisteswissenschaften, Lebensordnungen.  

1.2   WERTTHEORETISCHE GRUNDLAGEN  

1.21 Bewertende Wissenschaften

Im Unterschied zu den 'objektbezogenen' Realwissenschaften ist hier das subjektive Verhalten gegenüber der Umwelt von besonderem Interesse.  
1.22  Wert und Bewertung
Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, der Prozeß der Zuordnung.  
1.23  Wertabsolutismus
Das Reich der Werte, Erkenntnis und Geltung.
1.24  Wertempirismus
Werterlebnis und Zuordnung.  
1.25  Wertungsbegriffe
Allgemein bzw. speziell anwendbare Begriffe.  Emotionale Aspekte (Subjektzustände) und Eigenschaftsbegriffe (Objektbeschaffenheiten), Graduierbarkeit der Zuordnungen.  
1.26  Rangordnung von Werten
Absolute (ideale) und empirische (reale) Wertaussagen, Relativierung durch übergeordnetes Subjekt,Kollektive Rangordnungen, Gültigkeit u. Methoden der Bestimmung.  
1.27  Dynamische Interpretation
Wert als prozessuale Relation zwischen Interpretant, Objekt u. Mittel. Bewertungen, Wichtungen, Kommunizierbarkeit. Modell des 'Schwarzen Kastens'. Empirische, methodische, spekulative Wertungen.  
1.28  Präzisierung
Genauere Kommunizier- u. Koordinierbarkeit durch spezielle Theorien der Maß- u. Wertästhetik.
 

2.  GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE

2.1  VERGEGENWÄRTIGUNG
2.11  Ausrichtung des Tuns

Erkenntnis- u. Denkmöglichkeiten, Orientierungsprobleme.  
2.12  Offenheit der Gegenwart
Kybernetik des Seins, Verfall, spekulative Ortsbestimmung, Intention der Veränderung.
2.13  Vergangenes in der Gegenwart
Zwang zum Subjektbezug, Vermittlung nur des Unwesentlichen.
2.14  Tendenz zur Auswahl
Schwierigkeiten der Wahrheitsvermittlung: Filterung, Fälschung, Verschwörung, Enthusiasmus.
2.15  Mittelaspekt
Erkenntnis, Vermittlung, Interpretation, Wahrheit.

2.2    KONSUMWELT
2.21  Engagierte Präsentation 
 
Verschiebungen durch Interpretation, Wertwissen, prozessualisierte Rangordnungen.
2.22  Werbewelt
Interessen werden zur Ware, Attraktivität als Spiegel menschlicher Existenz, Wert als Intensität der Gefühle.
'Die Kategorien der Ware wiederholen alle Kategorien menschlicher Existenz.'(Bense)
2.23  Flächenmontage
Tiefe als Projektion. Präsentation statt Repräsentation. Zeit ohne Verlauf, Komplexität wird Artistik, Dissonanz bloße 'Oberflächenspannung'.
2.24  Visionäre Einheit

Befreiung von Zeitzwängen, romantische Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart u. Zukunft in der Zeitfläche. Entwirklichung und Poesie.
2.25  Kaleidoskop und Fragment
Entzeitlichung, Enträumlichung, Entmenschlichung. Gegenwart ohne Gegenwärtigkeit. Verlust der Geschichte.
2.26  Fragment und Totalität
Pluralismus als etablierter Fragmentarismus. Handelbarkeit relativer (prozessualisierter) Ganzheiten.
2.27  Verführung und 'Befreiung'
Rebellion, Chaos und Plakat. Gegenwelten, Verfremdung und Selbstverwirklichung.
2.28  Aktionismus und Lücke
Irritation, Denunzierung, Versumpfung, Infiltration, Kumpanei , Ausbruch.
2.29  Kultur und Werbung
Abschaffung des Bildungsprivilegs, Kulturausverkauf, Beziehungsverfall. Integration der Auflehnung,
Sublimierung der Ausweglosigkeit.
2.2X  Menschlichkeit
Eine konsumgerechte 'große Koalition' aus Magie und Aufklärung garantiert nur Freiheit für Getreue.

2.3   PERSPEKTIVE
2.31  Funktion der Geschichte
Auswerten verdeckter Bezüge. Fragment als 'Fremdes', das sich der Fläche entzieht. Störung der Plakatwelt durch Überwindung des Augenblicks.



3.  STÄDTEBAU

3.1  VERSTÄNDNIS
3.11 Geschichte und Stadt
Ort der Kultur und des Verfalls, der Geborgenheit und der Zerrissenheit, Heimat und Flucht . Überlagerungen geistiger Entwicklungen, Ziele und Tendenzen.
3.12  Abhängigkeiten
Tätigkeitskomplexe, Einbindung und Prägung aller gesellschaftlicher Sphären.
3.13  Kontinuum
Initiierte Entwicklungsprozesse ersetzen komponierte Endgültigkeit.

3.2   WANDLUNG
3.21   Idealbezug
3.211 Organische Erneuerung
Ewige Jugend, Bodenrecht und Sanierungen von Bernoulli bis Orwell. Ästhetik der Gewalt und des Zufalls.
3.212 Hierarchische Einbindung
Megastrukturen und Lücken zur Freiheit. Unsicherheiten urbaner Metamorphosen.
3.213 Dialektischer Wandel
Akzeptanz des Fragmentarischen in einem Entwicklungsspielraum (jap.Metabolismus). Yin und Yang als Wandlungsprinzipien. System generativer Elemente in Zellenstruktur, Stimulanzen demokratischer Zuordnung. 
3.22   Realbezug
3.221 Engagiertes Bewußtsein

Wachheit und Kritik. Monsterstrukturen und Moos in den Ecken.
3.222 Funktionsverständnis
Schlamperei und Hygienismus, Chaos und Charme. Überschätzung des technischen Ablaufs, Zuneigung übertrifft Berechnung.
3.223 Affektive Identifikation
Stadt als Fetisch, Objekt der Sehnsüchte. Affektive Prozesse. Orte der Erinnerung, menschlicher Beziehungen.
3.224 Sozialkonnex

Orte seelischer Ruhe, der Zugehörigkeit, Sicherheit, der Identitätsbildung. Wachstum gegen Produktion. Tradition und Faszination.
3.225 Objektbeziehung und Werbung
Identität und Manipulierbarkeit. Konsum, Reifung und Persönlichkeit. Architektur als 'Produktionsversuch menschlicher Heimat'.

3.3   ÜBERLAGERUNG
3.31   Kompromißbasis
Gefestigte Unruhe aus widerstrebenden Tendenzen.
3.32   Interessenkonflikt
Unverstandene Zusammenhänge, Städtebau und Wirtschaft.
3.33   Verschleierung und Aufklärung
Scheinprobleme, Scheinöffentlichkeit und Scheinlösungen. Verwirrung, Verunklärung. 
Die Gesellschaft ist komplexer als das Denken. Klarheit wird der Wahrheit vorgezogen, Eindeutigkeit der Mehrdeutigkeit, Widerspruchsfreiheit der Widersprüchlickeit.

3.34  Vereinfachungsdenken 
Homogene Subjektivität gilt als Objektivität. Der Reiz des Ungeplanten liegt in der Vielfalt der Struktur. 
Ein funktionierendes Städtebausystem ist nicht in simpler Baumstruktur (in der keine Mengen-Überschneidungen geduldet werden), sondern nur als millionenfach komplexerer Halbverband mit vielfachen Querverbindungen vorstellbar. 
Auch administrative und politische 'Baum'-strukturen werden üblicherweise überlagert von komplexeren - aber letztlich entscheidenderen - Regelkreisen. 'Wenn wir Städte als Bäume bauen, werden sie unser Leben darin in Stücke zerschneiden.'(Chr.Alexander)  

© erhard gentzsch ainmillerstr.38 80801 münchen 089-284818 fax 284640 
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